Artikel aus FORUM 19, Juni 2003, Seite 41 ff

Ein bisschen Jura gefällig? Eine kritische Betrachtung zum Thema der Hörgeräte-Festbeträge aus Sicht eines Betroffenen. 

BVG-Urteil vom 17.12.2002 zur Rechtmäßigkeit der Festsetzung von Festbeträgen

Michael Gerber, Hamburg

Als betroffener Hörgeschädigter kann ich nur schwer lassen von meinem Lieblingsthema, der ungerechten, wie unsozialen Zuzahlungspraxis für Hörgeräte. Ich war gespannt, wie das höchste deutsche Gericht in dieser Sache entscheiden würde. Lange genug hat es ja gedauert.

Wir erinnern uns: Mit Einführung der 1. Stufe der so genannten ‚Gesundheitsreform' des damaligen Gesundheitsministers Blüm erfolgte 1988 in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eine Abkehr von der bis dahin zuzahlungsfreien Hörgeräte-Versorgung hin zur Abgabepraxis von Hörhilfen auf der Basis von Festbeträgen. Fortan haben die Kostenträger Hörhilfen als sogenannte ‚Sachleistung' nur bis zur Höhe des jeweiligen Festbetrages bezuschusst. Darüber hinaus gehende Kosten waren seitdem von den gesetzlich Versicherten selbst tragen.

Anfangs war die Klassifizierung der Hörgeräte noch recht differenziert. Die Festbeträge bewegten sich in einem realistischen Verhältnis zu den tatsächlichen Abgabepreisen. Die ursprünglichen neun Festbetragsgruppen verschmolzen jedoch im Zuge der zweiten Stufe der Gesundheitsreform auf letztlich drei Gruppen. Die Festbeträge selbst wurden seitdem sogar noch abgesenkt.

Hingegen hat sich der technische Fortschritt gerade bei Hörhilfen enorm verbessert, sodass heute kaum noch Hörgeräte ohne Zuzahlung zu bekommen sind, zumindest nicht für höhergradige Hörschäden. Gegen diese einschneidende Vergabepraxis haben bereits 1990 eine Betroffene und ein Hörgeräte-Akustiker Klagen beim Sozialgericht eingereicht, die im Wege einer Sprungrevision 1995 dem Bundessozialgericht (BSG) zur Entscheidung angetragen wurden. Das Bundessozialgericht erkannte jedoch auf grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken, setzte die Verfahren aus und legte sie dem Bundesverfassungsgericht (BVG) zur verfassungsrechtlichen Prüfung vor. Dabei kritisierte das BSG im wesentlichen 2 Punkte: Zum Einen erhob das höchste Sozialgericht die Frage, ob in den dem Rechtsstreit zugrunde liegenden ‚Heil- und Hilfsmittelrichtlinien' das Rechtsschutzbedürfnis betroffener Leistungsbezieher überhaupt gebührend berücksichtigt sei. Zum Anderen bezweifelte das BSG die Rechtssetzungsbefugnis des Bundesausschusses der Ärzte- und Krankenkassen, der ja nach den einschlägigen Rechtsvorschriften den rechtlichen Rahmen und die Ausgestaltung der Festbeträge regeln sollten.

Nach vorheriger Anhörung verkündete dann am 17.12.2002, geschlagene sieben Jahre später, das Bundesverfassungsgericht (BVG) seine längst fällige Entscheidung. Im Tenor stellte der erste Senat des Gerichts darin fest, dass die Abgabe von Heil- und Hilfsmitteln über Festbeträge an Versicherte grundsätzlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Dies gelte unter anderem auch für Hörgeräte. Zu diesem Grundsatzurteil ergingen ergänzende ‚Rechtshinweise', die dazu führten, dass sich letztlich nahezu alle beteiligten Interessengruppen als ‚Verfahrenssieger' sehen. Insbesondere ergeben sich durchweg positive Reaktionen, was die Hörgeräte-Versorgung betrifft. Beispielhaft seien hier verschiedene Berichte und Stellungnahmen im ‚DSB-Report' I/03 und in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift ‚Hörakustik' erwähnt.


Betroffene Schwerhörige müssen auch zukünftig gesicherte Versorgung gerichtlich erstreiten

Ich teile diese zuversichtlichen Bewertungen nur bedingt, denn im Ergebnis müssen die betroffenen Hörgeschädigten auch zukünftig in jedem Einzelfall ihre 'ausreichende, zweckmäßige, wirtschaftliche und in der Qualität gesicherte Versorgung' gerichtlich erstreiten. Das kann doch nach den vielen Jahren des Hinhaltens nicht ernsthaft Sinn und Ziel sämtlicher bisheriger Bemühungen gewesen sein! Meine kritischere Sicht der Dinge möchte ich nachfolgend gerne erläutern.

Zunächst einmal ist festzustellen, dass das BVG nur eine Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des formellen Verfahrens der Festbetragsfestsetzung getroffen hat. Die noch offenen materiellen (inhaltlich-gegenständlichen) Fragen etwa zu den Auswirkungen der Festbetragsfestsetzung auf die Versicherten und Leistungsanbieter, zur Versorgungslage bei den Hilfsmitteln und zur Gruppen- und Festbetragsbildung selbst wurden nicht höchstrichterlich geprüft (Randziffer 102 des BVG-Urteils). Wohl stehen die einschlägigen Rechtsvorschriften über das Verfahren der Festbetragsfestsetzung als ‚Maßnahme des Verwaltungsvollzugs' nach Meinung des BVG mit dem Grundgesetz in Einklang (Randziffern 105, 132) und sind diese auch auslegungsfähig (Randziffer 137), doch unterliegt es der nachgehenden gerichtlichen Kontrolle festzustellen, dass der Festbetrag von den nach § 35 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches (SGB) V hierzu ermächtigten Stellen nicht so niedrig festgesetzt wird, dass eine ausreichende Versorgung der Versicherten durch vertragsgebundene Leistungserbringer nicht mehr gewährleistet ist (Randziffer 147).

Im Klartext bedeutet das nichts anderes, als dass nach wie vor der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen im Benehmen mit den Spitzenverbänden von Leistungsanbietern ermächtigt ist, die Festbeträge und die ihnen zugrunde liegende Gruppeneinteilung für Hörgeräte festzulegen. Die Interessenverbände der Leistungsbezieher müssen lediglich gehört werden. Die Versorgung selbst kann regelhaft über sogenannte Leistungsverträge mit den jeweiligen Anbietern erfolgen, in unserem Fall also mit den Akustikern. Nach Meinung des BVG gilt es dabei aber das sogenannte ‚Sachleistungsprinzip' zu beachten ( Randziffer 144) Hierzu muss grundsätzlich jeder gesetzlich Krankenversicherte die ‚Sachleistung' Hörgerät ohne Eigenleistung beziehen können (Randziffer 146) und sich nicht mit einer ‚Teilkostenerstattung' zufrieden geben (Randziffer 145). Weder Zuzahlungen noch prozentuale Beteiligungen habe der Gesetzgeber insoweit gewollt (Randziffer 146)!

Zudem stellt das BVG fest, dass über regelmäßige Überprüfungen die Festbeträge dem veränderten Marktgeschehen anzupassen sind (Randziffer 115). Nur dadurch könne letztlich bewirkt werden, dass die Versorgung mit ausreichenden, zweckmäßigen und in der Qualität gesicherten Hilfsmitteln als' Sachleistung' gewährleistet ist (Randziffer 147). Dabei sollte den Versicherten das ‚Sachleistungsprinzip' im möglichst preisgünstigen unteren Preissegment erhalten bleiben (Randziffer 146). Im Umkehrschluss heißt das, dass im Kontext mit dem ebenfalls gerichtlich bestätigten Wirtschaftlichkeitsgebot sich demnach das verordnete Hilfsmittel schon von einer billigen, eben nicht qualitativen Versorgung abheben müsste.

Nun sollte man meinen, jetzt wäre endlich die gebotene Klarheit geschaffen. Mitnichten! Denn das BVG zieht sich am Ende wieder auf die Ebene seiner formellen Prüfung zurück, indem es feststellt, dass die (materielle) gerichtliche Kontrolle der Festbetragssetzung geeignet ist, die Rechte der Versicherten zu wahren (Randziffer 148). Was nichts anderes bedeutet, dass weiterhin jeder Versicherte seine Recht aus den gesetzlichen Vorschriften einfordern und einklagen muss! Ich erwähnte es bereits.


Hörgeräte-Versorgung ohne Zuzahlung?

Nach den bisherigen Erfahrungen mit der eher bitteren Versorgungspraxis ist kaum anzunehmen, dass Krankenkassen und Leistungserbringer es schaffen, kurzfristig über Leistungsverträge die vom BVG in seinem Urteil mehrfach angemahnte ‚ausreichende' Hörgeräte-Versorgung ohne Zuzahlungen umzusetzen. Zum einen haben sich ‚aus der Not heraus' bereits mehrere zweifelhafte, konkurrierende Versorgungsmodelle herausgebildet. Zum anderen sieht das BVG höchstselbst weiteren gerichtlichen Klärungsbedarf zur Begrifflichkeit, was ‚im allgemeinen' unter einer ‚ausreichenden Versorgung' im Sinne des § 35, Absatz 5, Satz 1 SGB V zu verstehen ist (Randziffer 145).

Sollen wir betroffenen Hörgeschädigten deshalb über dieses Urteil jubeln? Können wir uns wirklich als ‚Verfahrenssieger' fühlen? Zugegeben, mit diesem Grundsatzurteil ist jetzt der Rahmen klarer abgesteckt, wie die Versorgung mit Hilfsmitteln über Festbeträge zu erfolgen hat. Probleme und Schwachstellen sind benannt. Gleichwohl ist es aber meiner Meinung nach die denkbar schlechteste aller Lösungen, zwölf Jahre nach Einreichen der ersten Klagen Betroffene wiederum auf den zähen und beschwerlichen Rechtsweg zu vertrösten.

Denn Fakt ist:

  • die Verbände Betroffener haben im Verfahren der Festbetragsfestsetzung für Hörgeräte nur schwache Einwirkungsrechte,

  • die gesetzmäßigen Kriterien in Bezug auf die ‚im allgemeinen ausreichende, zweckmäßige und qualitativ gebotene (Hörgeräte-) Versorgung sind nicht hinreichend bestimmt und bedürfen weiterer gerichtlicher Entscheidungen,

  • eine regelmäßige, sachgerechte Überprüfung der Festbeträge gibt es nicht,

  • stattdessen wurden aus Kostengründen die Festbeträge gesenkt und die ursprüngliche Gruppeneinteilung für Hörhilfen von 9 auf letztlich 3 bzw. 4 Gruppen reduziert, bezieht man Tinnitus-Masker mit ein,

  • es gibt sie nicht, die vom BVG vorausgesetzte Preis- und Leistungstransparenz bei Hörhilfen, wie erst jüngst die Stiftung Warentest neutral feststelle,

  • das gebotene Sachleistungsprinzip ist nicht (mehr) gewährleistet, weil sich eben nicht mehr alle Hörschädigungen objektiv ohne Zuzahlungen versorgen lassen.

Das BVG-Urteil mag juristisch bedeutsam sein, bringt betroffene Hörgeschädigte dem Ziel einer allgemein ausreichenden, zweckmäßigen und qualitativ gebotenen Hörgeräte-Versorgung ohne Zuzahlung nicht entscheidend näher. Das ist nach wie vor unklar und muss in nachgeordneten Gerichtsverfahren im Einzelfall erst mühsam erstritten werden. Dabei sollte doch die zuzahlungsfreie Versorgung eigentlich längst gängige Praxis sein.....

Das ist insofern bedauerlich, als die von vielen Fachleuten geforderte ‚optimale Versorgung' mit Hörhilfen in der rechtlichen Würdigung völlig ausgeblendet wurde. Zudem stellt sich die Frage, wie betroffene Hörgeschädigte ihre Ansprüche vor Gericht beweisen sollen? Ihnen fehlen vielfach sowohl die - selbst Fachleuten schwer verständlichen - Detailkenntnisse als auch eine gebotene fachlich kompetente Unterstützung. Denn das Verbandsklagerecht des DSB in sozialgerichtlichen Verfahren ist rechtlich noch nicht eindeutig geklärt.

Für mich war diese entmutigende Tendenz in der Rechtsprechung spätestens in dem Moment erkennbar, in dem das BVG mehrere unterschiedliche Klagen gegen die ‚Heil- und Hilfsmittel-Richtlinien' zu einem Verfahren zusammengefasst hat. Denn als Hörgeschädigter kann und will ich nicht einsehen, was Arzneimittel und Brillen mit Hörhilfsmitteln gemein haben sollen!

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